DAS VERHÄLTNIS ÖSTERREICH-UNGARNS ZU RUSSLAND
FRIEDRICH GRAF SZÁPÁRY


(from RINGS UM SASONOW, Neue Dokumentarische Darlegungen zum Ausbruch des Grossen Krieges durch Kronzeugen, ed. EDUARD RITTER VON STEINITZ, Verlag für Kulturpolitik / Berlin W 50, 1928)

Sasonows Werk bildet einen der wertvollsten bisher erschienen Beiträge von russischer Seite zur Klarlegung des Verhältnisses Rußlands zu Österreich–Ungarn in den Jahren vor dem großen Kriege und bei Ausbruch desselben und erweckt unser Interesse weniger durch neue darin angeführte Tatsachen, als durch den Freimut, mit welchem die Ziele der russischen Politik darin aufgedeckt werden und deren Unvereinbarkeit mit dem Bestande Österreich–Ungarns nachgewiesen wird. Unter diesen Umständen muß es befremden, daß der Leiter einer zugegebenermaßen hostilen Politik die österreichisch-ungarischen Diplomaten wiederholt als Gauner, gewissenlose Betrüger, Fälscher, die Politik derselben als Bosheit, Starrsinn und Verbrechen bezeichnet, soferne wir die in der Einleitung enthaltene Erklärung, daß der Autor die "für eine wissenschaftliche Untersuchung nötige Unparteilichkeit" für sich gar nicht in Anspruch nimmt und seine Darlegungen als "persönliche Wertung" der Ereignisse aufgefaßt wissen will, nicht als Entschuldigung gelten lassen wollen.

Sasonow entwickelt selbst in überzeugender Weise, daß Österreich-Ungarn, wenn es weiterbestehen wollte, am Balkan vitale Interessen zu verteidigen hatte, und erklärt gleich im ersten Kapitel seines Buches: "Auf diesem Boden politischer Nebenbuhlerschaft im nahen Osten erwuchs die jahrhundertelange Feindschaft zwischen Wien und Petersburg, die verhängnisvollerweise früher oder später zum blutigen Zusammenstoß führen mußte. Einen anderen Ausweg aus dem zwischen ihnen bestehenden unversöhnlichen Gegensatz gab es nicht." Und er fügt hinzu, "daß es niemals wahrscheinlich war, daß Rußland und Österreich-Ungarn ihre Rechnung auf dem Balkan Beteiligung anderer Mächte an diesem Kampf abmachen würden, und daß seit dem Abschluß des deutsch-österreichisch-ungarischen Bündnisses im Jahre 1879 gar keine Hoffnung auf einen derartigen bloßen Zweikampf mehr bleiben konnte, von welcher Überzeugung alle europäischen Kabinette durchdrungen waren".

Es wäre verlockend, würde aber zu weit führen, hier auf den historischen Hintergrund dieser angeblichen jahrhundertelangen Rivalität und die Unmöglichkeit ihrer Beseitigung näher einzugehen. Es genügt aber, darauf zu verweisen, daß die österreichisch-ungarische Diplomatie sich niemals auf diesen hoffnungslosen Standpunkt gestellt hat, daß vielmehr die diplomatische Geschichte seit den Tagen Josephs II. das ununterbrochene Bestreben Österreichs dokumentiert, die sich durch den Eintritt Rußlands in die bis dahin nur von Österreich getragene Rolle des Befreiers der Balkanvölker vom Türkenjoch ergebenden Reibungsflächen durch die Pflege der großen gemeinsamen Interessen der beiden Kaisermächte, deren hartnäckige Verkennung seitens Rußlands ihr derzeitiges Schicksal heraufbeschworen hat, zu vermindern und womöglich durch einen Ausgleich aus der Welt zu schaffen. Daß dies nicht gelang, war dem zunehmenden nationalistisch-revolutionären Zug der russischen Balkanpolitik zuzuschreiben, der mit dem Staatsgedanken des Habsburger Reiches immer unvereinbarer wurde, bis eine radikale Veränderung des Verhältnisses der Großmächte zur orientalischen Frage: der in den letzten Jahren vor dem Kriege eingetretene Parallelismus der österreichisch-ungarischen und deutschen Orientinteressen und die sich daraus ergebende Interessengemeinschaft zwischen Rußland und England, den russischösterreichisch-ungarischen Gegensatz in den Bannkreis viel umfassenderer Probleme zog, auf welche Sasonow mit folgenden Worten hinweist: "Die Krisis wegen Bosniens und der Herzegowina offenbarte mit unumstößlicher Gewißheit die Ziele der österreichisch-deutschen Balkanpolitik und schuf die Voraussetzungen für den unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen Germanentum und Slawentum."

Was Österreich-Ungarn betrifft, können wir die Charakterisierung als "Zusammenstoß zwischen Germanentum und Slawentum" nur mit einiger Einschränkung und dem Zugeständnis poetischer Freiheit für die Politik eines Staates gelten lassen, welcher sich damit begnügte, für die Erhaltung und Sicherheit eines einem Fünfzigmillionenreich entsprechenden Zuganges zum Meere einzutreten, und der Rußland vielmehr wegen seiner auf ganz anderen Bahnen wandelnden slawischen, als wegen seiner deutschen Politik im Wege stand. In diesem Zusammenhange sei hier nur flüchtig auf den von Sasonow in seinen Erinnerungen gänzlich übergangenen Konfliktsstoff hingewiesen, der sich aus der in Österreich vorhandenen Entwicklungsmöglichkeit für die ukrainische Nationalität ergab und der von großrussischen Nationalisten vielfach für wichtiger und ernster gehalten wurde als das Balkanproblem.

Wir sind übrigens in der Lage, aus Sasonows Buche selbst eine überzeugendere Begründung und Rechtfertigung der österreichisch-ungarischen Balkanpolitik zu zitieren, als ihr Bedürfnis an der deutschen "Weltpolitik" zu partizipieren. Sasonow sagt: "Einzig die Beherrschung des kroatischen und dalmatinischen Ufers, dazu ein Ausgang zum Ägäischen Meer, konnte die befriedigende Lösung der wirtschaftlichen (?) Fragen bringen, von der das serbische Volk viele Jahre geträumt hatte, und auf die sich die serbische Regierung mit dem Augenblicke vorbereitete, wo die Verwirklichung der großserbischen Idee allmählich in den Bereich der politischen Möglichkeiten zu rücken begann." Also war es doch nicht nur der "blinde Starrsinn des Unverstandes der österreichisch-ungarischen Diplomatie" der Österreich-Ungarn veranlaßte, dem Plane Rußlands, Serbien im Jahre 1913 an die Adria vorzuschieben, Schwierigkeiten in den Weg zu legen, so daß Sasonow den Serben zur Geduld raten mußte, weil "die Zeit für sie und gegen ihre Gegner arbeite". Rußlands Politik war denn auch ganz auf dieses Arbeitenlassen der Zeit gegen Österreich-Ungarn eingestellt, denn es galt den russischen Staatsmännern als Grundsatz, daß Österreich-Ungarn sich ohne Schwertstreich liquideren zu lassen hätte, und daß Rußland vollkommen berechtigt sei, es mit Waffengewalt zu hindern, sich durch einen - wenn auch noch so provozierten - Angriff auf Serbien gegen diesen Prozeß Wehr zu setzen. Dieser Auffassung entsprachen die Kriegsdrohungen, welche Sasonow im Jahre 1913 und 1914 gegenüber dem König von Rumänien und den Botschaftern Österreich-Ungarn und Deutschlands in St. Petersburg aussprach.

Ähnliche Gedankengänge verraten sich, wenn Sasonow von Rumänien spricht, das von Rußland "ernsthafte Hilfe in der Sache seiner nationalen Wiedergeburt erwarten konnte, wenn diese durch den unabänderlichen Gang der geschichtlichen Ereignisse aktuell werden würde". Als er im Jahre 1914 mit dem rumänischen Ministerpräsidenten siebenbürgischen Boden betrat, "durchzuckte uns beide wahrscheinlich ein und derselbe Gedanke, nämlich, daß wir uns auf rumänischer Erde befanden, die ihre Befreiung von der Madjarenherrschaft und ihre Wiedervereinigung mit dem Brudervolk jenseits der Grenze erwartete. Aber wir tauschten diese Gedanken nicht aus, da für uns die Zeit noch nicht gekommen war, offen zu sprechen." Mit einem Worte, die ganze Mentalität des leitenden russischen Staatsmannes war von der in allen russischen Kreisen verbreiteten Vorstellung beherrscht, daß man den Schild über Österreich-Ungarns Nachbarn halten werde, wenn diese einmal nach dem Rezepte, welches der Balkanhund eben gegenüber der Türkei angewendet hatte, gegen Österreich-Ungarn vorgehen würden, wobei sogar die stille Hoffnung gestattet war, daß Rußland vielleicht doch noch, ohne selbst das Schwert zu ziehen, des angeblichen Nebenbuhlers ebenso wie des "Pangermanismus" am Balkan ledig werden könnte wie es auch die Türken in Europa ohne eigenes Blutopfer mit Hilfe des Balkanbundes losgeworden war.

Diesem Wunsche nach einer womöglich für Rußland unblutiger Abwicklung eines solchen russischerseits als ebenso natürlich wie berechtigt angesehen Prozesses stand ein großes Fragezeichen gegenüber. Wie wird sich das Deutsche Reich verhalten? In den einleitenden Kapiteln des Sasonowschen Werkes findet sich eine aufschlußreiche Darstellung der von Rußland mächtig geforderten sog. "Einkreisungspolitik", deren Namen Sasonow zwar energisch zurückweist deren Wesen er aber in seiner Beschreibung der diplomatischen Geschäftigkeit Delcassés und Iswolskis vollkommen zugibt. Die Ungeschminktheit der Darstellung ist wohl auch hier nur dem Vollgefühle zuzuschreiben, daß dieser Vorgang ebenso natürlich und berechtigt war, als die Verurteilung Österreich-Ungarns zur Selbsauflösung. Angesichts so weitgehender und erfolgreicher Vorbereitungen konnte man vielleicht annehmen, daß der obenerwähnte Parallelismus der deutschen und österreichisch-ungarischen Orientpolitik sich denn doch nicht auswirken würde. Hatte er doch, wie Sasonow selbst hervorhebt, im Jahre 1913 schon versagt, und man mochte vielleicht sogar hoffen (Sasonow meint in seiner Kritik der Bismarckschen Epigonen, ein Bismark hätte etwa so gehandelt), daß Deutschland unter diesem Drucke sich eines besseren besinnen und dem "unabänderlichen Gang der geschichtlichen Ereignisse" (wohl gegen entsprechende Beteiligung an der Liquidierung) freien Lauf lassen würde. Vervollständigt wurde das umfassende System zum Schutze des ungestörten "Arbeitenlassens" der Zeit durch intensive militärische Vorbereitungen für den Fall, "daß die Umstände zu einer aggressiven Bewegung in der Richtung auf Konstantinopel und die Meerengen zwingen würden", deren Programm zu seiner Durchführung "wohl ganze Jahre" benötigt hatte. Für die erforderliche Machtentfaltung zur See wollte man durch die Vertiefung der Beziehungen zu England sorgen. Durch Schaffung einer solchen Übermacht zu Lande und zu Wasser sollte Deutschland am politischen Vordringen in der Richtung seines "gigantischen Planes der Weltherrschaft", die sich für Sasonow in der Linie Hamburg-Bagdad verkörperte, Österreich-Ungarn hingegen an der Verteidigung seiner durch das "Arbeiten der Zeit" bedrohten Existenz gehindert werden.

Aus dieser relativen Ruhe einer politischen Lage, welche Rußland und seinen Verbündeten die günstige Stellung als beati possidentes einer vorteilhaften, durch den Ablauf der Zeit nur verbesserungsfähigen Position zu verbürgen schien, wurde die Welt durch das Dröhnen der Schüsse der Sarajewoer Attentäter aufgescheucht. Die seit Jahren bei allen politisch Denkenden in Österreich-Ungarn um sich greifende Erkenntnis, daß die nach dem Balkankriege noch intensifizierte Rolle Serbiens, in der empfindlichsten Flanke der Donaumonarchie als von Rußland und seinen Verbündeten angesetzter Sturmbock zu wirken, der das Gefüge der Monarchie zu schwächen und zu lockern hatte, ohne daß diese sich zur Wehr setzen durfte, wenn sie nicht als Störer des europäischen Friedens und feiger Angreifer eines kleinen und schwachen Staates figurieren wollte, auf die Dauer eine unerträgliche Lage schaffe, wurde durch das Attentat von Sarajevo derart verbreitet und vertieft, daß Österreich-Ungarn einer Stellungnahme nicht mehr ausweichen konnte. Man wußte in Wien, daß Rußland, wie schon erwähnt, sich im Falle eines Angriffes mit Serbien solidarisch erklärt hatte, und gerade diese immer wiederholte Erklärung, welche die russische Diplomatie wohl nur deshalb so ostentativ abgab, weil sie den ihr damals sicher unerwünschten Eintritt des "unvermeidlichen blutigen Zusammenstoßes" hinauszuschieben hoffte, erwies sich gerade als verhängnisvolle Gefährdung des Friedens. Denn ein verantwortlicher österreichisch-ungarischer Staatsmann mußte sich angesichts der oben geschilderten, die Monarchie ständig in ihrer Existenz bedrohenden Vorbereitungen Rußlands Fragen vorlegen, die sich bei einer vorsichtigeren Haltung der russischen Diplomaten nicht mit solcher Schärfe aufgedrängt hätten. Serbien hatte gegen die Annexion Bosniens und der Herzegowina protestiert und eine feindselige Haltung eingenommen, Serbien hatte im Balkankriege an die Adria verstoßen wollen, Serbien betrieb trotz aller Versicherungen einen offiziell patronisierten militanten Irredentismus, der nun sogar zur Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers geführt hatte; was konnte und mußte naturnotwendig noch folgen, wenn Österreich-Ungarn diesen dem äußeren Anschein nach kleinen Nachbar, in welchem in Wirklichkeit aber die ganze Energie einer mächtigen europäischen Koalition wirksam war, weiter gewähren ließ? Da eine Abnahme der Aktivität der großserbischen Politik nicht zu erwarten, vielmehr, so wie bisher, eine sich allmählich steigernde Intensität derselben vorauszusehen war, die wohl in absehbarer Zeit zu von außen angestifteten Unruhen, Putschen, ja zur Revolution führen mußte, war ja logischerweise ein Vorgehen gegen Serbien und damit das mit solcher Emphase angekündigte Eingreifen Rußlands auf die Dauer doch nicht zu vermeiden! Und waren die Kriegsdrohungen Rußlands nicht ein bloßer Bluff gewesen, so war die Wahrscheinlichkeit, daß er sich besinnen werde, doch großer, so Lange der Schlußstein des zur Lahmlegung des "Nebenbuhlers" erdachten Systems, die volle militärische Bereitschaft, die, wie Sasonow sagt, "noch ganze Jahre" brauchen würde, nicht erreicht war! Bei der weitgehend geklärten Kenntnis, die wir heute von der europäischen Vorkriegspolitik besitzen, ist es wohl außer Zweifel, daß, so sehr alle europäischen Kabinette mit der Möglichkeit eines in absehbarer Zeit ausbrechenden europäischen Krieges rechneten, keines derselben - in jenem Zeitpunkt wenigstens - einen solchen führen wollte. Diesem, wenigstens augenblicklichen Friedenswillen hatte Rußland mit seiner verhängnisvollen Haltung als bedingungsloser Schützer Serbiens so schlecht gedient, daß Österreich-Ungarn durch dieselbe nach dem Sarajewoer Attentate aus den oben angeführten Erwägungen zu einem möglichst raschen Vorgehen gegen Serbien geradezu gedrängt war, während Rußland als Gefangener seines eigenen diplomatischen und militärischen Programms Schritt für Schritt in die Bahn der Interventionspolitik getrieben wurde, die zum Weltkrieg führte. Wenn also Sasonow von "unsinnigen und verbrecherischen Entscheidungen" spricht, so war es Rußland selbst, das die Lage geschaffen hatte, die jene Entscheidungen provozierte.

Sasonow glaubt, die Wahl des Zeitpunktes für die Überreichung des Ultimatums - das Abwarten der Abreise Poincarés von St.Petersburg - auf die Absicht zurückfuhren zu sollen, daß die Ausnützung der Anwesenheit des französischen Präsidenten in der russischen Hauptstadt zur Festsetzung eines gemeinsamen Aktionsplans der Verbündeten verhindert werden sollte. In Wahrheit trat dieser Aufschub ein, um Rußland die Aufrechterhaltung einer friedlichen Politik zu erleichtern. Man hatte in Wien - mit Recht oder Unrecht — mehr Vertrauen in die Friedensliebe Rußlands als in jene Poincarés. Zudem hatte Rußland so sehr ausposaunt, daß es in einem Krieg gegen Serbien eingreifen werde, daß es ihm in Anwesenheit eines vielleicht scharfmachenden verbündeten Staatsoberhauptes schwerfallen mußte, Wasser in seinen Wein zu tun.

Wenn nun Sasonow bemerkt, daß "das österreichische Ultimatum Europa mit einem Schlage an den Rand des Abgrundes stellte, indem es eine Lage schuf, aus der es schwer war, einen anderen Ausweg zu finden, als einen europäischen Krieg", so soll die Schwierigkeit des Problems nicht in Abrede gestellt werden, wenn auch hier nochmals wiederholt werden muß, daß die verhängnisvolle Weise, in der die russische Diplomatie sich als bedingungsloser Schützer Serbiens festgelegt hatte, die Hauptschwierigkeit bildete. Aus dieser Schwierigkeit sollte nun, wie Sasonow meint, Berlin dem russischen Nachbarn heraushelfen, indem er Österreich-Ungarn in den Arm fiel! Die Erörterungen, welche der Autor an die damalige Haltung des Bundesgenossen Österreich-Ungarns knüpft, und die das Bestehen einer Verschwörung gegen den europäischen Frieden dartun sollen, beweisen im Gegenteile klipp und klar, daß die deutschen verantwortlichen Stellen sich von der Auffassung leiten ließen, daß "Rußland nicht zur Waffe greifen" werde, und daß die europäische Gesamtsituation, insbesondere im Hinblick auf die gebesserten deutsch-englischen Beziehungen, einen Zusammenstoß der Großmächte als unwahrscheinlich erscheinen lasse. In diesen und den folgenden Ausführungen Sasonows häufen sich die Stellen, in welchen vom "Krieg" schlechtweg gesprochen wird, und die Begriffe "Krieg gegen Serbien" und "Krieg der Großmächte gegeneinander" konfundiert werden. Diese in der Literatur und Presse immer wiederkehrende Vermengung ist zwar für den politisch Geschulten belanglos, hat aber in der öffentlichen Meinung vielfach Verheerungen angerichtet. Obwohl sich nun Sasonow - wohl unabsichtlich — auch in dieser Begriffsverwirrung bewegt, vermag seine Darstellung die eigentlich selbstverständliche Tatsache, daß - von Österreich-Ungarn gar nicht zu reden die deutsche Diplomatie einen Krieg gegen Rußland und seine Verbündeten weder beabsichtigte noch wünschen konnte, nicht nur nicht umzustoßen, sondern die angeführten Zitate von Äußerungen Kaiser Wilhelms und der deutschen Staatsmänner beweisen vielmehr, daß sie alle von der Voraussetzung ausgingen, eine Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien sei in diesem Zeitpunkt möglich, ohne eine europäische Konflagration hervorzurufen.

Sasonow erhebt aber nicht nur gegen Deutschland den Vorwurf, daß es zur Erhaltung des Friedens sein diplomatisches Gewicht nicht genug in die Wagschale geworfen habe; wir begegneten in seinen Erinnerungen wiederholt der Klage: Wenn doch Sir Edward Grey gesprochen hätte! Daß Englands unklare Haltung zur Verschärfung der Lage wesentlich beigetragen hat, können wir Sasonow ohne weiteres zugeben, wenn auch in einem anderen Sinne, als es dem russischen Minister vorschwebt. Nach Absendung des Ultimatums war Rußlands Augenmerk ängstlich auf die Rückwirkung gerichtet, welche dieser Schritt bei den Westmächten auslösen werde; erklärte mir Sasonow doch bei der ersten Mitteilung desselben, er werde dazu nicht Stellung nehmen, indem er bezeichnenderweise hinzufügte: Vous verrez ce qu'on dira à Londres! Vous verrez ce qu'on dira à Paris! On dira que vous êtes des agresseurs! Diese im ersten Augenblick eingenommene, nach Westen blickende, vorsichtige Haltung wird verständlich, wenn man sich Rußlands Erfahrungen in der Annexionskrise und im Skutarikonflikt vor Augen hält, wie denn auch dem Buche Sasonows zu entnehmen ist, daß es hauptsächlich der ablehnenden Haltung der Westmächte zuzuschreiben war, daß in den Jahren 1909 und 1913 ein Losschlagen Rußlands unterblieb. In St. Petersburg fühlte denn auch damals jedermann, daß alles davon abhänge, welche Stellung die englische Diplomatie einnehmen werde, und es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß eine energische Absage Englands in St. Petersburg Rußland zu größerer Vorsicht bewogen und das Betreten der verhängnisvollen Bahn verhindert hatte, auf der Rußland Schritt für Schritt dem Kriege naher eilte, je mehr es glauben konnte, daß es der Westmächte sicher sei.

Je deutlicher England für Rußland Stellung nahm, sehen wir allerdings auch Deutschlands Neigung wachsen, Österreich-Ungarn aufzuhalten; und wenn auch Sasonow die Authentizität der Dokumente anzuzweifeln sucht, welche den durch die Haltung Englands bewirkten Umschwung in der deutschen Auffassung beweisen, ist es eine allen unmittelbar Beteiligten wohl in frischester Erinnerung stehende Tatsache, daß Deutschland angesichts der Erkenntnis, daß seine Erwartung, England werde sich desinteressieren, auf Täuschung beruhe, einen energischen Druck auf Österreich-Ungarn auszuüben begann, der wohl geeignet war, den Dingen eine andere Wendung zu geben, wenn Rußland damals auf der schiefen Ebene der Mobilisierung nicht schon zu weit abgeglitten wäre und die Lage irreparabel gestaltet hätte.

Und nun entrollt sich vor unseren Augen eine erschütternde Tragödie menschlicher Unzulänglichkeit. Die Ententediplomaten, die - wenigstens in jenem Zeitpunkte - den Krieg nicht führen wollten, schufen, teils aus Scheu, ein Odium auf sich zu nehmen, teils unter der Einwirkung einer in den Militärkreisen ausgebrochenen Panik, selbst die Lage, die den Krieg unvermeidlich machte. Rußland, der ratlose Gefangene seiner jahrelang betriebenen indirekten Mobilisierungen nicht schon zu weit abgeglitten wäre und Angriffspolitik und seiner eigenen großen Worte, Englands und Frankreichs leitende Staatsmänner hinwiederum zu schwach, um dem Vorwurf der Nachwelt ins Gesicht zu sehen, sie hätten die Gelegenheit zur Beseitigung der "deutschen Gefahr", beziehungsweise zur Revanche versäumt!

Es war schon höchst gewagt und folgenschwer, daß Rußland unmittelbar nach Bekanntwerden des Ultimatums ein offizielles Communiqué herausgab, laut welchem es der Lage nicht gleichgültig gegenüberstehen könne. Entscheidend für die Unabwendbarkeit der Katastrophe war es jedoch, als Rußland gegen Österreich-Ungarn militärische Maßnahmen ergriff, indem es eine Teilmobilisierung anordnete, deren Umfang der Stärke der gesamten österreichisch-ungarischen Armee einschließlich der gegen Serbien engagierten Streitkräfte entsprach. Damit war das diplomatische Terrain trotz unserer eindringlichen Warnungen verlassen. Ich bin nicht im Besitze des nötigen Materials, um Sasonows einigermaßen widerspruchsvoller Darstellung der sich hieran schließenden militärischen Maßnahmen und Gegenmaßnahmen der Großmächte kalendermäßige Daten gegenüberzustellen; Tatsache ist, daß die am 29. Juli n. St. verlautbarte Mobilisierung von 13 russischen Armeekorps gegen Österreich-Ungarn, die Sasonow wohl noch als diplomatisches Druckmittel betrachten mochte und den von mir ausgesprochenen Warnungen gegenüber als bloße Vorsichtsmaßregel bezeichnete, deren Charakter durch eine "note explicative" erläutert werden würde, die erste Mobilisierungsmaßnahme einer nicht direkt beteiligten Großmacht darstellte, welche die ganze Kette von Mobilisierungen und Gegenmobilisierungen, im Gefolge hatte. Die mir angekündigte "note explicative" ist nie erschienen; es wäre auch schwer gewesen, eine zureichende Erklärung für eine so ernste militärische Drohung gegen einen Staat zu geben, der eben im Begriffe war, an einer ganz anderen Front, gegen ein viel kleineres aber kriegsgeübtes Heer in einen schwierigen Kampf einzutreten. Neben diesem ersten und zugleich entscheidenden Schritt auf militärischem Gebiete ist es weniger belangreich, welche Wirkung in der Folge die falsche Nachricht des "Lokalanzeigers" über eine allgemeine Mobilisierung Deutschlands auf die weiteren russischen Kriegsmaßnahmen ausübte. Aus der Darstellung Sasonows geht unzweifelhaft hervor, daß die russische allgemeine Mobilisierung infolge einer bei der russischen Heeresleitung ausgebrochenen Panik übereilt beschlossen wurde, um nicht zu spät zu kommen, und daß Sasonow es selbst war, der sich dazu gebrauchen ließ, dem bis zuletzt widerstrebenden Kaiser die Zustimmung dazu abzuringen.

Der von Sasonow wiedergegebene Vortrag beim Kaiser, der so unabsehbare Folgen nach sich ziehen sollte, enthält Widersprüche und Argumente, die sich nur im Hinblick auf dessen improvisierten Charakter oder durch den Umstand erklären lassen, daß dem Autor die in Eile und Aufregung vorgebrachten Ausführungen nur ungenau im Gedächtnis haften blieben. Denn wozu brauchte er nach der Behauptung, "daß wir dem Krieg nicht mehr entgehen könnten, daß er in Wien längst beschlossen worden sei" usw. dem noch schwankenden Kaiser vorzustellen, "daß die Feinde beschlossen hätten, ihre Macht durch die Unterjochung unserer natürlichen Bundesgenossen auf dem Balkan und durch die Vernichtung unseres historisch gewordenen Einflusses zu sichern, was gleichbedeutend (!) sein würde, Rußland einem elenden, von der Willkür der Zentralmächte abhängigen Dasein preiszugeben"?

Die zweideutige Phrase: "In Wien, wo der Krieg schon lange mit Deutschlands Kenntnis und Einverständnis beschlossen war", findet sich nochmals in den weiteren der Darstellung des Kriegsausbruches gewidmeten Kapiteln, und sie wird nicht deutlicher durch die Erwähnung eines angeblichen "Entschlusses Kaiser Franz Josephs und seiner Regierung, Krieg unter allen Umständen und mit jedem zu führen". Diese laut Sasonow auf General Conrads von Hötzendorf Kriegslust zurückzuführende Raserei hatte wohl die österreichisch-ungarische Heeresleitung so blind gemacht, daß sie Truppen, die sie in einem Kriege mit Rußland an der russischen Grenze benötigt hätte, an die serbische Grenze dirigiert hatte, von wo sie nach der russischen allgemeinen Mobilisierung in größter Eile nach Galizien, an die Antipoden, geschoben werden mußten.

Und das alles, weil Sasonow, wie der Zauberlehrling, die Geister nicht mehr bannen konnte, die er gerufen!


Created: Friday, January 23, 1998, 07:15 Last Updated: Friday, January 23, 1998, 07:15