AUS DEN KRISENJAHREN 1908 BIS 1913 - FRIEDRICH GRAF SZÁPÁRY
Österreich

(from ERINNERUNGEN AN FRANZ JOSEPH I, Kaiser von Österreich, Apostolischer König von Ungarn, ed. EDUARD RITTER VON STEINITZ, Verlag für Kulturpolitik / Berlin 1931)

Man hat oft behauptet, daß Kaiser-König Franz Joseph seine Ratgeber weder glücklich zu wählen wußte, noch zu halten geneigt war, wenn es Schwierigkeiten gab, ja, daß es geradezu seinem Naturell entsprach, sich mit Menschen zu umgeben, deren politisches Prinzip das möglichst konfliktslose "Fortwursteln" bildete.

Die Berufung des Grafen Aehrenthal zur Leitung der auswärtigen Politik der Monarchie und der Verlauf dessen sechsjähriger Tätigkeit am Ballhausplatze widerspricht dieser Auffassung auf der ganzen Linie. Aehrenthal, ein Mann, dessen Amtsführung erst mit geschichtlichem Maßstab wird gemessen werden können, war gewiß der Beste, der dem Kaiser damals zur Verfügung stand. Er griff nach ihm, obwohl seine Persönlichkeit keineswegs von vornherein bestechend war und sein Charakter ihn zu keinem bequemen Diener zu prädestinieren schien. Tatsächlich war das Regime Aehrenthal für den Kaiser zwar eine Zeit von großen Erfolgen, aber auch von Kämpfen schwerster Art, die bis zum Tode des sich an der Seite des Monarchen auftreibenden Ministers andauerten.

Aehrenthal litt schwer unter dem Geist des Pessimismus, den er nach seinem Scheiden vom Botschafterposten in St. Petersburg nunmehr in der Heimat vorfand; er machte es sich zur Aufgabe, diesem Österreich-Ungarn, das sich selbst das Todesurteil zu sprechen bereit war, wieder den Glauben an sich selbst zurückzugeben. Dieses Programm fand die volle Billigung des nahezu achtzigjährigen Herrschers, der auch unter den gefährlichsten Spannungen, die es auslöste, daran festgehalten hat. Kaiser Franz Joseph wurde mit Recht ein Friedenskaiser genannt, und er war es auch in der wohlverstandenen Bedeutung des Wortes. Obwohl immer Soldat durch und durch, hatte er keine anderen Aspirationen für sein Reich, als diesem die ohnehin nur in bescheidenem Maße vorhandenen Requisite einer Großmacht zu erhalten, zu denen auch der für Fünfzigmillionen-Reich unentbehrliche gesicherte Zu- und Ausgang zum Meere gehörte. Dieser wäre durch einen Verlust des Hinterlands der istrianisch-dalmatinischen Küste erheblich gefährdet gewesen, abgesehen davon, daß die nationalpolitischen Folgen einer Entwicklung dieser Angelegenheit im Sinne der großserbischen Idee zum Auftakt des Zerfalles der Monarchie werden mußten. Als sich Aehrenthal im Jahre 1908 genötigt sah, dem Kaiser die Ausdehnung seiner Souveränität auf das bis dahin nur okkupierte Bosnien-Herzegowina vorzuschlagen*, wäre der Herrscher als Mann der Pflicht sogar bereit gewesen, den wider Erwarteten von Serbien erhobenen leidenschaftlichen Protest mit den Waffen zurückzuweisen. Diesmal konnten aber so schwerwiegende Entschließungen vermieden werden. Aehrenthal gelang es, in einer meisterhaften diplomatischen Kampagne hintereinander die Türkei, Rußland und die übrigen Signatarmächte des Berliner Vertrages zur Anerkennung des von ihm geschaffenen fait accompli zu bewegen, und trotz der turbulenten Proteste Serbiens dieses in Schranken zu halten.

Es wäre vollkommen irrig, dieses entschlossene Vorgehen des Ministers als eine dem angeblich willenlosen alten Kaiser aufdrängte, seinem Friedensbedürfnisse widersprechende Episode aufzufassen. Aehrenthal fand bei dem Monarchen volles Verständnis für eine Aktion, die ja erst die gesicherte Grundlage für die Friedenspolitik des Kaisers schaffen sollte, indem sie Österreich-Ungarn aus der bedenklichen direkten Verquickung mit dem Schicksale der Türkei befreite, und es ihm ermöglichte, dem Balkan gegenüber eine Politik der Nichtintervention zu befolgen. Aber nicht nur moralisch wurde der Leiter der Außenpolitik von seinem Monarchen gestützt, sondern auch durch dessen Verkehr mit fremden Staatsoberhäuptern und Diplomaten. Dieser Verkehr war von eminenter Bedeutung. Mit dem ganzen Rüstzeug eines ausgezeichneten Fachmannes vermochte der Kaiser mit stets äußerst wohlerwogenen, klugen Worten und in formvollendeter Weise die von ihm gebilligte Politik auch aktiv zu vertreten, und manche dieser Unterredungen waren wahre Kabinettstücke diplomatischer Kunst.

Es gelang, die Verstimmungen, welche bei einzelnen Mächten als Residuum der Annexionskrise noch einige Zeit fühlbar waren, zum Schwinden zu bringen. Im Verhältnis zu England war die verehrungsvolle Hinneigung, die König Eduard für den greisen Kaiser empfand, von großem Werte, wie denn überhaupt die Persönlichkeit des Herrschers es den zahlreichen Gegnern der Monarchie wesentlich erschwerte, diese als mutwilligen Friedensstörer hinzustellen. Seine Autorität und sein Ansehen bildeten eine unentbehrliche Komponente in der verhältnismäßig glatten Durchführung der so weite Kreise ziehenden Aktion, wie er denn auch während seiner ganzen Regierungszeit, selbst bis in den großen Krieg hinein, der Welt noch einen Rest jener erhabenen Traditionen zu verkörpern und zu verhalten vermochte, welche die Staaten als gleichwertig, den Krieg nicht als Vernichtungskampf, sondern als ritterlich zu führenden Waffengang zum Zwecke der Sicherung bestimmter Rechte und die Staatsoberhäupter der zivilisierten Welt, als zu einer gewissen Solidarität berufen und verpflichtet, betrachtete.

Die mit so glänzendem Erfolge durchgeführte Aktion brachte eine beispiellose Wandlung des öffentlichen Geistes im alten Donaureiche hervor. Verschwunden war der Pessimismus; man sah, daß man nicht nur lebte, sondern innerhalb einiger Monate von einem "kranken Manne" einem maßgebenden Faktor der europäischen Politik geworden war. Und als der Kaiser im Jahre 1910 das neue Souveränitätsgebiet zum ersten Male bereiste, feierte er dort einen wohlverdienten Triumph. Die Ehrfurcht, welche seine Person auslöste, gestattete ihm ohne den Schatten einer Attentatsfurcht die völlig freie Bewegung im ganzen Lande, dem er eben verfassungsmäßige Einrichtungen gewährt hatte. Das warme, wohlwollende Interesse, das der Monarch allen Nationalitäten und Konfessionen der neuen Provinzen in gleichem Maße entgegenbrachte, weckte auch den entsprechenden Widerhall in der gesamten Bevölkerung - einschließlich der serbischen. Es sei hier bemerkt, daß der Kaiser nunmehr auch mohammedanische Untertanen in seinem Reiche hatte, denen er bei seiner Hochschätzung der den bosnischen Mohammedaner charakterisierenden Würde und Ritterlichkeit besonders gewogen war.

Wie notwendig eine reinliche Scheidung vom Balkan gewesen war, erwies sich täglich von neuem angesichts der beständigen Unruhe, welche die Balkanverhältnisse charakterisierte, bis die italienische Aktion in Tripolis die Nöte der Türkei aufs höchste steigerte.

Gerade die Tripolis-Aktion Italiens führte zum Höhepunkt einer Krise, die dem Kaiser seit längerer Zeit schwere Sorgen bereitete. So sehr die Selbstbehauptung der Monarchie während der Annexionskampagne auf die Hebung des öffentlichen Geistes günstig einwirkte, konnte man seit geraumer Zeit Nebenwirkungen gewahren, die, teils aus der durch die Annexion hervorgerufenen Strukturveränderung des Reiches, teils aus dem erhöhten Selbstbewußtsein militärischer Kreise entsprungen, bedenkliche Unstimmigkeiten im komplizierten Regierungsorganismus der Monarchie hervorriefen. Die an sich schon höchst eigenartige Konstruktion des Regierungsapparates erfuhr noch eine außerverfassungsmäßige Komplizierung durch die dynastischen Verhältnisse. Neben einem hochbetagten Herrscher ohne direkten Leibeserben stand ein im besten Mannesalter befindlicher, begabter und geistig regsamer Thronfolger, der durch seine Stellung als Oberkommandant sämtlicher Streitkräfte im Kriege schon im Frieden mit weitgehenden militärischen Vollmachten ausgestattet war und dadurch speziell in militärischen Kreisen bedeutenden aktuellen Einfluß besaß. Der Kaiser erkannte frühzeitig die Notwendigkeit, seinen Nachfolger mit der auswärtigen Politik des Reiches in Fühlung zu erhalten, und ließ ihn dementsprechend über alle Vorgänge informieren, verwendete ihn überdies zu Missionen an fremde Höfe, die der Monarch infolge seines hohen Alters nicht mehr besuchen konnte. Bei dem im Wesen der Sache liegenden Antagonismus diplomatischer und militärischer Auffassungen, die sich von jeher überall einzustellen pflegen, war es naheliegend, daß bei einer - wenn auch nicht rechtlich, so doch praktisch durchgeführten - Teilung der militärischen Gewalt mit dem Thronfolger die diplomatisch-militärischen Gegensätze alsbald auch diesen mitergriffen, indem Militärfunktionäre ihren Gravamina auf dem Umwege über den Erzherzog beim Kaiser Nachdruck zu verschaffen suchten. Da sich diese Unstimmigkeiten sowohl bei Fragen der Besetzung militärischer Posten von politischer Bedeutung als auch in bezug auf die Ansichten über die richtige Führung der Außenpolitik häuften, hatte Graf Aehrenthal dem Kaiser seit Juni 1911 wiederholt seinen Rücktritt angeboten, ja dieses Angebot anläßlich der auf Wunsch des Erzherzogs Franz Ferdinand erfolgten Ernennung des Generals von Auffenberg zum Kriegsminister in nachdrücklicher Weise erneuert. Da aber der Kaiser die Bitte Aehrenthals um Enthebung rundweg abwies, kam es zur Aufnahme des Kampfes zwischen dem Minister und den für sein Ressort verantwortlichen Faktoren. Am heftigsten entbrannte der Streit in der Frage gegenüber Italien zu befolgenden Politik. Generalstabschef v. Conrad, der schon seit dem Jahre 1906 einem Präventivkriege gegen Italien das Wort redete, hatte den Thronfolger für diesen Gedanken einzunehmen verstanden und, da seine Ideen Schule machten, entstanden Strömungen, die den Bestrebungen Aehrenthals, gute Beziehungen zu Italien zu unterhalten, abträglich waren. Als nun wegen Tripolis der Kriegszustand zwischen dem apenninischen Königreiche und der Türkei eintrat, drängte der Generalstabschef so ungestüm, man möge Italien in den Rücken fallen, daß sich Aehrenthal gezwungen sah, neuerlich an den Kaiser zu appellieren, der dann auch mit der Entlassung Conrads vorging.

Dieser und andere ähnliche Vorgänge hatten eine so tiefe Kluft zwischen dem Erzherzog-Thronfolger und dem Minister aufgerissen, daß an ein auskömmliches Verhältnis zwischen beiden Männern in der Zukunft nicht hatte gedacht werden können. Auch war das - Kompromissen abholde - Wesen Aehrenthals ganz ungeeignet, nach einem Mittelweg zwischen den in ihrer Art und aus den beiderseitigen Verhältnissen heraus berechtigten und erklärlichen Tendenzen des Monarchen und des Thronfolgers zu suchen. Kaiser Franz Joseph, der nach einer mehr als ein Menschenalter währenden Regierungszeit, abgesehen vom natürlichen Konservatismus des Alters, durch unzählige Enttäuschungen den Glauben an radikale Allheilmittel verloren hatte, huldigte begreiflicherweise dem Grundsatze, tunlichst am Bewährten festzuhalten, der Thronfolger hinwiederum, jung, tatendurstig, die Wandlungen und Bedürfnisse der Zeit mit offenem Auge sehend, begabt, aber nicht vollständig genug informiert und zuweilen von politisch inkompetenten Elementen beeinflußt, suchte ganz neue Wege, ohne hierbei von der vollen Last der Verantwortlichkeit gehemmt zu sein. Daraus ergab sich ein Konflikt, in dem derjenige, der sich in die Bresche stellte, unfehlbar zermürbt werden mußte. Dies war das Schicksal des Grafen Aehrenthal. Wenn seine ohnehin erschütterte Gesundheit auch standgehalten hätte, wäre doch sein Bleiben auf die Dauer unmöglich geworden. Von seinem Monarchen bis zum letzten Augenblick unentwegt gehalten, verschied er, von ihm tief betrauert, noch im besten Lebensalter als Opfer seiner Pflichttreue, ein treuer Diener seines Herrn.

Die schweren Konflikte, die der greise Herrscher eben durchgemacht hatte, ließen wohl den Wunsch in ihm reifen, Aehrenthals verwaisten Posten mit einer konzilianteren Persönlichkeit zu besetzen. Seine Wahl fiel auf den Grafen Berchtold, der sich der undankbaren Aufgabe unterzog, den Weg des Ausgleiches jener Gegensätze zu finden, unter denen sein Vorgänger sich schließlich fruchtlos aufgerieben hatte. Dies führte allerdings merklich zur Minderung der Reibungsflächen, mußte aber auf die Politik gelegentlich von Einfluß sein. Der Kaiser hielt an den Grundsätzen fest, die vor Berchtolds Amtsantritt maßgebend gewesen waren. Der Dreibund wurde erneuert, und der Monarch konstatierte selbst mit Genugtuung, daß es gelungen sei, ein beinahe vertrauensvolles Verhältnis zu Italien wiederherzustellen, da anläßlich der Besprechungen im Jahre 1913 den österreichisch-ungarischen Militärs ein unerwartet tiefer Einblick in gewisse italienische Belange gewährt wurde.

So wäre der italienisch-türkische Krieg ohne schwerwiegende Folgen für die Monarchie abgelaufen, wenn nicht in seinem Gefolge unter russischer Ägide eine Verschwörung der Balkanstaaten gegen die Türkei - eigentlich aber auch gegen Österreich-Ungarn - platzgegriffen hätte. Auch in der kritischen Phase des ersten und zweiten Balkankrieges beharrte der Kaiser standhaft auf seiner Friedenspolitik; Österreich-Ungarn ließ den unheimlichen Konflikt an seinen Grenzen austoben n und griff nur korrigierend ein, wenn - wie in Albanien - seine unmittelbarsten Interessen tangiert schienen. Diese Haltung erforderte unerhörte Geduld und Langmut; zu Zeiten war die öffentliche Meinung aufs tiefste erregt und drängte zur Intervention.

"Nicht wahr, wir machen doch eine gute Politik" äußerte der Monarch zu Graf Berchtold unter dem Eindrucke des Drängen mancher Krise und hielt an seiner friedfertigen Stellungnahme fest.

Diese Selbstverleugnung sollte aber nicht die erhofften Fruchte tragen. Es kam zum dritten Balkankriege, der im Bukarester Friedensschluß zur Bildung eines Großserbien führte.

Nun galt es, die Revision dieses Vertragsinstruments durchzusetzen und für Bulgarien einzutreten. Leider fand die Monarchie in dieser Lebensfrage nicht die Unterstützung des deutschen Bundesgenossen, da Kaiser Wilhelm sich im Interesse seines Schwagers in Griechenland und des Hohenzollern auf dem rumänischen Throne für die Aufrechterhaltung des Bukarester Friedens einsetzte.

Trotz dieser ernsten Widerstände hätte sich Kaiser Franz Joseph der Notwendigkeit einer Aktion zugunsten Bulgariens nicht verschlossen, wenn Erzherzog Franz Ferdinand für eine solche zu gewinnen gewesen wäre. Dem Schreiber dieses Aufsatzes fiel die Aufgabe zu, dem in Blühnbach weilenden Thronfolger die Gefahr vor Augen zu führen, die der Bukarester Friede für die Zukunft der Monarchie bedeutete. Der Erzherzog anerkannte die Logik einer Politik, die an dem Prinzip des Gleichgewichts am Balkan festhalten und Bulgarien zu Hilfe kommen wollte. Sein ganzes politisches Denken war aber so sehr von den nationalpolitischen Plänen beherrscht, die er seinerzeit als Regent verwirklichen wollte, daß er rundweg erklärte, ein Großserbien nicht zu fürchten.

Unter dem Drucke dieser übermächtigen, äußeren und inneren Widerstände entschloß sich Graf Berchtold, dem Kaiser vorzuschlagen, die Revisionsbestrebungen in suspenso zu belassen, was vom Herrscher genommen wurde.

Noch vor Ablauf des Jahres lag Erzherzog Franz Ferdinand, von einem serbischen Geschosse getroffen, auf der Bahre, und der greiser Kaiser-König mußte den Krieg führen, an dessen Vermeidung er die längste Zeit seines Lebens mit so viel Opfern und Entsagung rastlos gearbeitet hatte.


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(*) Ich verzichte auf die Wiedergabe sämtlicher zwingender Gründe, die Österreich-Ungarn zur Annexion der beiden Provinzen veranlaßten, da die verschiedenen Aktenpublikationen hierüber reichlich Aufschluß erteilten.



Created: Friday, January 23, 1998, 07:27 Last Updated: April 2002