den 31. Juli 1914

Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten


Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten

(31. Juli 1914)

P r o t o k o l l  
des zu   W i e n   am 31.   J u l i   1914 abgehaltenen   M i n i s t e r r a t e s   für gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des Ministers des k. u. k. Hauses und des Äußern Grafen   B e r c h t o l d .

G e g e n w ä r t i g e :  
Der k. u. k. Ministerpräsident Graf   S t ü r g k h,  
der k. ung. Ministerpräsident Graf   T i s z a ,  
der k. u. k. gemeinsame Finanzminister Ritter von   B i l i n s k i ,  
der k. u. k. Kriegsminister FZM. Ritter von   K r o b a t i n ,  
der k. ung. Minister am Allerhöchsten. Hoflager Freiherr von   B u r i á n ,  
der Stellvertreter des k. u. k. Marinekommandanten Konteradmiral von   K a i l e r .  
Protokollführer: Legationsrat Graf   H o y o s .  

G e g e n s t a n d :   Beratung über den englischen Vermittlungsvorschlag und über an Italien zu gewährende Kompensationen.

Der   V o r s i t z e n d e   eröffnet die Sitzung und verliest einen Tagesbericht vom 30. 1. M. folgenden Inhaltes1:

Herr von Tschirschky hat gestern hier im Auftrage des Reichskanzlers Mitteilung über eine Unterredung zwischen Sir E. Grey und Fürst Lichnowsky gemacht, in der der englische Staatssekretär dem deutschen Botschafter das Nachfolgende eröffnete:
»Sazonow habe die englische Regierung wissen lassen, daß er nach der Kriegserklärung Österreich­Ungarns an Serbien nicht mehr in der Lage sei, mit Österreich­Ungarn direkt zu verhandeln und daher die Bitte ausspreche, England möge seine Vermittlung wieder aufnehmen. Als Voraussetzung betrachte die russische Regierung die vorläufige Einstellung der Feindseligkeiten.«
Zu dieser russischen Eröffnung bemerkte Sir E. Grey zu Fürst Lichnowsky, England denke an eine Vermittlung à� quatre und halte dieselbe für dringend geboten, wenn nicht ein Weltkrieg entstehen solle.
In privater Weise hat Sir E. Grey dem deutschen Botschafter zu verstehen gegeben, daß England zwar, wenn es sich nur um ein Eingreifen Rußlands handeln würde, neutral bleiben könnte, daß es aber, wenn auch Deutschland und Frankreich in die Aktion treten, nicht untätig bleiben, sondern zu sofortigen Entschlüssen und Handlungen gezwungen wäre. Das englische Kabinett müsse mit der öffentlichen Meinung rechnen, die wegen der österreichischerseits bewiesenen Hartnäckigkeit umzuschlagen beginne.
Dem italienischen Botschafter, den Sir E. Grey kurz nach dem Fürsten Lichnowsky empfing, sagte der englische Staatssekretär, er glaube, Österreich­Ungarn jede mögliche Genugtuung verschaffen zu können. Ein demütiges Zurückweichen Österreich­Ungarns käme nicht in Frage, da die Serben auf alle Fälle gezüchtigt und mit Zustimmung Rußlands genötigt würden, sich den österreichisch­ungarischen Wünschen unterzuordnen. Österreich­Ungarn könne also, auch ohne einen Weltkrieg zu entfesseln, Bürgschaften für die Zukunft erlangen.
Herr von Tschirschky war beauftragt, an die in Vorstehendem wiedergegebenen Äußerungen Sir E. Greys die nachstehenden Konsiderationen des deutschen Reichskanzlers zu knüpfen:
Wenn Österreich­Ungarn jede Vermittlung ablehne, würden Osterreich­Ungarn und Deutschland einer Koalition von ganz Europa gegenüberstehen, da auch Italien und Rumänien nicht mit ihnen gingen.
Österreich­Ungarns politischem Prestige, der Waffenehre seiner Armee und seinen berechtigten Ansprüchen Serbien gegenüber könnte durch die Besetzung Belgrads und anderer Punkte Genüge getan werden. Auch seine Stellung am Balkan   —   Rußland gegenüber   —   würde Österreich­Ungarn durch erfolgte Demütigung Serbiens zu einer starken machen. Unter diesen Umständen müsse es das deutsche Kabinett dringendst und nachdrücklichst der Erwägung den k. u. k. Regierung anheimstellen, die Vermittlung Englands unter den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzunehmen. Es wäre für Österreich­Ungarn und Deutschland ungemein schwer, die Verantwortung für die Folgen einer ablehnenden Haltung zu tragen.
Hieran anknüpfend erklärt Graf Berchtold, er habe dem deutschen Botschafter, als dieser ihm den englischen Vorschlag vorlegte, sogleich erklärt, daß eine Einstellung unserer Feindseligkeiten gegen Serbien unmöglich sei. Über den Vermittlungsvorschlag könne er nicht allein entscheiden, sondern er müsse hierüber die Befehle Seiner Majestät einholen und die Angelegenheit im Ministerrate besprechen.
Er habe dann Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät über den Inhalt der Demarche des deutschen Botschafters Vortrag erstattet, Allerhöchstwelcher sofort erklärt habe, daß die Einstellung der Feindseligkeiten gegen Serbien unmöglich sei. Seine Majestät habe aber den Antrag genehmigt, daß wir es zwar sorgsam vermeiden, den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht anzunehmen, daß wir aber in der Form unserer Antwort Entgegenkommen zeigen und dem Wunsche des deutschen Reichskanzlers, die Regierung nicht vor den Kopf zu stoßen, auf diese Weise entgegenkommen.
Die Antwort an die deutsche Regierung sei noch nicht ausgearbeitet, er könne aber jetzt schon sagen, daß bei ihrer Textierung auf drei Grundprinzipien Bedacht zu nehmen sein werde, nämlich:
1. Die kriegerischen Operationen gegen Serbien müssen fortgesetzt werden.
2. Wir könnten über den englischen Vorschlag nicht unterhandeln, solange die russische Mobilisierung nicht eingestellt werde, und
3. unsere Bedingungen müßten integral angenommen werden und wir könnten uns in keine Verhandlungen über dieselben einlassen.
Erfahrungsmäß versuchten die Mächte in solchen Fällen immer Abstriche bei Weitergabe seitens einer Macht aufgestellter Bedingungen zu machen, es sei sehr wahrscheinlich, daß man dies auch jetzt versuchen würde, wo bei der jetzigen Zusammensetzung Frankreich, England und auch Italien den russischen Standpunkt vertreten würden und wir an dem gegenwärtigen deutschen Vertreter in London eine sehr zweifelhafte Stütze hätten. Von dem Fürsten Lichnowsky sei alles andere zu erwarten, als daß er unsere Interessen warm vertreten würde. Wenn die Aktion jetzt nur mit einem Prestigegewinne endete, so wäre sie seiner Ansicht nach ganz umsonst unternommen worden. Wir hätten von einer einfachen Besetzung Belgrads gar nichts, selbst wenn Rußland hiezu seine Einwilligung geben würde. Alles dies wäre Flitterwerk, Rußland würde als Retter Serbiens und namentlich der serbischen Armee auftreten. Letztere würde intakt bleiben und wir hätten in zwei bis drei Jahren wieder einen Angriff Serbiens unter viel ungünstigeren Bedingungen zu gewärtigen. Er beabsichtige daher, auf den englischen Vorschlag in sehr verbindlicher Form zu antworten, dabei aber die vorerwähnten Bedingungen zu stellen und zu vermeiden, auf den meritorischen Teil einzugehen.
Der   g e m e i n s a m e   F i n a n z m i n i s t e r   weist darauf hin, daß durch unsere Mobilisierung eine ganz neue Situation geschaffen worden sei. Vorschläge, die in einem früheren Zeitpunkte akzeptabel gewesen wären, seien jetzt nicht mehr annehmbar.
Der   k ö n i g l i c h   u n g a r i s c h e   M i n i s t e r p r ä s i d e n t   erklärt, er schließe sich den Ausführungen des Vorsitzenden vollkommen an und sei auch der Ansicht, daß es verhängnisvoll wäre, auf das Meritum des englischen Vorschlages einzugehen. Unsere Kriegsoperationen gegen Serbien müßten jedenfalls ihren Fortgang nehmen. Er frage sich aber, ob es notwendig sei, schon jetzt überhaupt unsere neuen Forderungen an Serbien den Mächten bekanntzugeben und würde vorschlagen, die englische Anregung dahin zu beantworten, daß wir prinzipiell bereit wären, derselben näherzutreten, jedoch nur unter der Bedingung, daß unsere Operationen gegen Serbien fortgesetzt werden und die russische Mobilisierung eingestellt werde.
Der k. k.   M i n i s t e r p r ä s i d e n t   führt aus, der Gedanke einer Konferenz sei ihm so odios, daß er selbst ein scheinbares Eingehen auf denselben vermeiden möchte. Er halte daher den Vorschlag des Grafen Tisza für den richtigen. Wir müßten den Krieg mit Serbien fortsetzen und uns bereiterklären, mit den Mächten weiter zu verhandeln, sobald Rußland seine Mobilisierung einstelle.
Herr von   B i l i n s k i   findet die Anregung des Grafen Tisza außerordentlich geschickt und würden wir durch das Stellen der erwähnten zwei Bedingungen Zeit gewinnen. Auch er könnte sich mit der Idee einer Konferenz nicht befreunden. Der Verlauf der Londoner Konferenz stünde in so entsetzlicher Erinnerung, daß sich die ganze Öffentlichkeit gegen die Wiederholung eines solchen Schauspieles auflehnen würde. Auch er sei der Ansicht, man solle den englischen Vorschlag nicht schroff ablehnen.
Nachdem noch Freiherr von   B u r i á n   sich in zustimmendem Sinne geäußert hat, wird der Vorschlag des Grafen Tisza einstimmig angenommen und festgestellt, daß prinzipielle Geneigtheit besteht, auf den englischen Vorschlag unter den zwei vom Grafen Tisza aufgestellten Bedingungen einzugehen.
Der   V o r s i t z e n d e   hebt hierauf hervor, wie wichtig es sei, Italien beim Dreibund zu erhalten. Nun hätte sich aber Italien auf den Standpunkt gestellt, der Konflikt sei von uns provoziert worden, und unser Vorgehen gegen Serbien habe eine aggressive Spitze gegen Rußland. Aus allen Äußerungen des Marquis di San Giuliano gehe klar hervor, daß die ganze italienische Haltung von dem Verlangen nach einer Kompensation getragen sei. Italien stütze dieses sein Verlangen auf den Wortlaut des Artikels VII des Dreibundvertrages. Unsere Auffassung sei, daß laut dieses Artikels das Recht auf eine Kompensation nur dann bestünde, wenn wir   t ü r k i s c h e s   G e b i e t   auf dem Balkan dauernd oder vorübergehend besetzen würden, da dem Geiste des Vertrages nach nur von Gebieten des Empire Ottoman die Rede sein könne. Italien behaupte dagegen, daß, nachdem an einer Stelle auch die Worte »dans les Balcans« vorkommen, die ganze Balkanhalbinsel gemeint sei. Wenn sich auch die italienische Auffassung durch eine Reihe von Gründen bekämpfen ließe, so müsse er doch darauf hinweisen, daß die deutsche Regierung sich die Anschauung Italiens zu eigen gemacht hätte. Im Laufe der letzten Woche seien täglich Demarchen bei ihm gemacht worden, um zu erreichen, daß sich die k. u. k. Regierung der Auffassung der Kompensationsfrage seitens der zwei anderen verbündeten Mächte anschließe.
Der k. u. k.   K r i e g s m i n i s t e r   erwähnt, daß ihm der k. u. k. Militärattaché in Berlin berichtet hätte über Unterredungen, die er mit Kaiser Wilhelm und Generalstabschef Graf Moltke gehabt hätte, in welchen beide in eindringlicher Weise hervorgehoben hätten, wie wichtig ein aktives Eingreifen Italiens in dem bevorstehenden Konflikte sei, und daß es daher äußerst wünschenswert wäre, wenn die k. u. k. Regierung Italien in der Kompensationsfrage entgegenkommen würde.
Der   V o r s i t z e n d e   erklärt, man hätte ihn von Rom aus wissen lassen, der bevorstehende Krieg widerstreite den italienischen Interessen, da durch einen günstigen Ausgang desselben unsere Machtstellung am Balkan vermehrt würde. Unter diesen Umständen könne Italien nur dann aktiv eingreifen, wenn seine Ansprüche anerkannt würden. Er habe den k. u. k. Botschafter in Rom bisher beauftragt, mit vagen Phrasen auf die Kompensationsforderungen zu antworten und dabei immer wieder nachdrücklich zu betonen, daß uns der Gedanke an territoriale Erwerbungen ferne liege. Wenn wir aber gegen unseren Willen dazu gezwungen würden, eine nicht nur vorübergehende Okkupation vorzunehmen, so wäre noch immer Zeit, der Kompensationsfrage näherzutreten.
Er sehe nur zwei Wege, die man hier einschlagen könne. Entweder auf der eigenen Auslegung des Artikels VII zu beharren, aber mit einem »beau geste« Italien eine Kompensation zuzusprechen, oder aber die italienische Auslegung des Artikels VII anzunehmen, wobei ausdrücklich hervorzuheben wäre, daß Italien nur dann Anspruch auf eine Kompensation hätte, wenn wir zu einer dauernden Besitzergreifung eines Gebietes auf der Balkanhalbinsel schreiten würden. Zum Schlusse wolle er darauf hinweisen, daß wir während des libyschen Feldzuges den Artikel VII in sehr rigoroser Weise ausgelegt hätten.
Freiherr von   B u r i á n   und Graf   T i s z a   betonen, daß man nicht nur die italienische Interpretation des Artikels VII des Vertrages anfechten könne, sondern auch die Auffassung der italienischen Regierung, daß der Casus foederis für sie nicht gegeben sei. Daher sollte man nur unter der Bedingung sich zu Konzessionen entschließen, daß die italienische Kooperation im Falle eines großen Krieges tatsächlich Platz greife.
Herr von   B i l i n s k i   weist darauf hin, daß der große Kampf, der bevorstehe, für die Monarchie ein Existenzkampf sei. Wenn die effektive Hilfe Italiens in diesem Kampfe wirklich von so großem Werte sei, so werde man wohl ein Opfer bringen müsssen, um dieselbe zu erkaufen.
Graf   S t ü r g k h   vertritt den Standpunkt, daß Italien keinen Anspruch auf eine Kompensation erheben könne, wenn es nach Ausbruch des großen Krieges seine Bundespflicht nicht erfülle.
Der Ministerrat erteilt hierauf dem Vorsitzenden die prinzipielle Ermächtigung, Italien für den Fall, als wir eine dauernde Besetzung serbischen Territoriums vornehmen sollten, eine Kompensation in Aussicht zu stellen und, wenn es die Umstände erheischen sollten und Italien seine Bundespflicht tatsächlich erfüllt, auch über die Abtretung Valonas an Italien zu sprechen, in welchem Falle Österreich­Ungarn sich den ausschlaggebenden Einfluß in Nordalbanien sichern würde.
Hierauf erklärt der Vorsitzende die Beratung für beendet.

(Gez.)   B e r c h t o l d.  

Schriftführer:      
(Gez.) A.   H o y o s.  

      Ich habe den Inhalt dieses Protokolles
zur Kenntnis genommen.
      Wien, den 21. August 1914.
                          (gez.) Franz Joseph.


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