den 30. Juli 1914
Graf Mensdorff an Grafen Berchtold
Graf Mensdorff an Grafen Berchtold
Telegramm Nr. 121
L o n d o n , den 30. Juli 1914
Aufg. 10 Uhr · / . p. m.
Eingetr. 2 Uhr 30 M. p. m. 31./7.C h i f f r e
Ich habe Sir E. Grey soeben gesprochen und ihn wieder auf den unbefriedigenden Charakter serbischer Note aufmerksam gemacht sowie mit größtem Nachdruck betont, daß wir ebenso wie Deutschland aufrichtigen Wunsch hegen, gute Beziehungen unter den Großmächten nicht gestört zu sehen. Auch daß wir durch niemand geschoben wurden, was er auch anerkennt. Seine Beurteilung der Lage ist sehr pessimistisch, und er meint, wir steuern einem allgemeinen Kriege entgegen. Meine Versicherungen, daß wir mit Serbien uns auseinanderzusetzen gezwungen sind, nicht aber einen Streit mit irgendeiner Großmacht haben, beantwortete er stets damit, daß es dann unbegreiflich sei, warum man in Wien absolut abgelehnt habe, glücklich begonnene Konversation zwischen Herrn Sazonow und Grafen Szápáry fortzusetzen, die wie ein Hoffnungsstrahl auf ganz Europa gewirkt hätte. Jetzt mobilisiere Rußland, morgen vielleicht Deutschland und Frankreich. Konversation zwischen Berlin und Petersburg schiene auch nicht günstigen Verlauf zu nehmen.
Auf meine Bemerkung, ich rechne auf ihn, um in Petersburg zu beruhigen, erwiderte er, es würden ihm zwei entgegengesetzte Standpunkte angeraten: sich unbedingt auf Seite Rußlands und Frankreichs zu stellen, wodurch der Krieg verhindert werden könnte (ich warf ein, das würde wohl höchstens Gegenteil herbeiführen), oder zu erklären, daß England unter keiner Bedingung am Krieg Frankreichs und Rußlands teilnehmen würde. Letzteres, versicherte er mir, würde den Krieg auch nicht verhindern.
Er sei stets mit Berlin in Verbindung und bemühe sich noch weiter im Interesse des Friedens. Um in Petersburg etwas zu erwirken, müsse er aber irgend etwas haben, wenn er mit leeren Händen käme und nur verlange, Rußland solle bei Seite stehen, bis wir mit Serbien abgerechnet haben, werde er nichts durchsetzen können.
Ich verwies wieder ausführlich darauf, daß für uns die Austragung unserer Differenz mit Serbien eine Existenzfrage sei, für alle anderen höchstens Prestigefrage. Er meinte, er müsse mit Fakten rechnen, und wenn wir glaubten, Rußland würde Vernichtung Serbiens ruhig hinnehmen, so sei dies ein Irrtum; England kümmere nicht unser Kampf mit Serbien, nur dessen Rückwirkung auf das Verhältnis zwischen Großmächten. Wir hätten aber Konversation mit Petersburg abgebrochen und brächten auch den andern Mächten nichts, das sie in Petersburg verwerten könnten.
Auf letzteren Punkt antwortet[e] ich, daß jetzt, wo der Krieg begonnen habe, es schwer für uns sei, irgend etwas zu sagen. Was könnten wir ihm denn zur Vermittlung in die Hand geben? Er erwiderte, er wolle lieber keine Anregung machen, nachdem sie bei uns wie eine unberufene Einmischung angesehen werden könnte. Ich bemerkte, alles von ihm Kommende würde stets bei uns mit Rücksicht und freundschaftlicher Sympathie aufgenommen werden. Ich drang aber nicht weiter, da eine Anregung vielleicht jetzt nicht erwünscht wäre. Im Laufe der Konversation konnte ich aber konstatieren, daß nach seiner Ansicht irgendeine Erklärung unsererseits, daß wir nach der Besetzung der Hauptstadt und eines Teiles des Landes als Pfand innehalten würden, falls Serbien unsere Forderungen befriedigt (etwa mit Garantie der Mächte, daß Serbien seine Versprechungen einhält), ihm das einzige Mittel schiene, den großen Konflikt zu verhüten. Er verwahrte sich aber ausdrücklich dagegen, irgendeine Suggestion zu machen. Staatssekretär sowie Tyrrell beurteilten Lage sehr ernst. Auch letzterer beklagt hauptsächlich den Abbruch unserer direkten Konversation mit Sazonow. Er meinte, Deutschland habe nicht sehr glücklich seine Besprechungen mit Petersburg begon[n]en. Sazonow sei entschlossen, unter keiner Bedingung die Rolle Iswolskys im Jahre 1909 zu spielen. Kaiser Nikolaus soll auch diesmal sehr aufgebracht sein.
Bezüglich hiesiger Haltung wiederholt mir Tyrell, daß, wenn Frankreich in Aktion tritt, Stellung britischer Regierung sehr schwierig sein wird.
Mein Eindruck ist der, daß man sich hier e i f r i g s t bemüht, Frieden zu erhalten und jedem Versuch dahin vollste Unterstützung angedeihen lassen wird, auch uns sehr weitgehende Satisfaktion und Garantien für die Zukunft gegenüber Serbien zu verschaffen bestrebt wäre, wenn, wozu es vielleicht jetzt zu spät ist, wir irgendeine Erklärung bezüglich künftiger Existenz Serbiens als unabhängiger Staat geben könnten, die für Rußland irgendwie akzeptabel wäre.
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